Auch "Allein sein" in einer Menschenmenge gehört zur Entwicklung dazu.


Hamburg, 14.04.2024

Ich war dieses Wochenende mit meinem Mann in Hamburg. Mit regelmäßiger Planung nehmen wir uns Auszeiten als Paar, weil wir im Familien-Alltag (mit einem Teenager und einem Kita-Kind) als Paar zu kurz kommen.  Diese Auszeiten tun sehr, sehr gut, sie bringen verliebte Frische und Lebendigkeit, schöne Erlebnisse zu zweit, sowie wunderbare Erinnerungen und wir lernen gegenseitig immer wieder Neues von uns. Diese Tage stehen fett in unserem Familienkalender und wir sind schon immer voller Vorfreude darauf. 

So also dieses Mal Hamburg und der Luxus eines ganzen Wochenendes!
Wir waren zum ersten Mal als Paar in Hamburg und sind dann am Ankunftstag abends auf die Reeperbahn-"muss man ja gesehen haben". Das letzte Mal war ich auf der Reeperbahn, da war ich 21 Jahre alt, mit Freunden und viel Alkohol in dementsprechender Stimmung. 
Ich ahnte, dass es jetzt anders für mich sein würde als damals in 2001, ich war dann allerdings doch ziemlich betroffen, wie grundverschieden ich diesen Ort jetzt wahrnahm. 
Ich lief durch die Menschenmenge und bemerkte mit jedem Schritt, wie ich mich mehr und mehr falsch am Platz fühlte. 
Mit jedem Pub, der mit mehr und noch mehr Alkohol warb, fühlte ich mich als trockene Alkoholikerin wie eine Aussätzige. 
Mit jedem Sex-Hotel, in dem mit "cheap Sex" geworben wurde, fühlte ich Wut gegenüber solch einem Ausverkauf von weiblichen Körpern. 
Mit jedem leicht bekleideten Mädchen, welches betrunken kichernd mit ihren Freundinnen die Aufmerksamkeit eines oder mehrerer Männer erringen wollte, fühlte ich eine Ohnmacht gegenüber diesem System. 
Mit jedem und jeder Obdachlosen, welche die gesamte Reeperbahn säumten, fragte ich mich, ob nur ich diesen Zusammenhang von dem Übermaß an Alkohol einerseits und den Folgen in extremster Form von gebrochenen und kranken Menschen sah. 
Und mit jeder Disco, jedem Club, Pub und Striptease-Club, fiel mir auf, dass zwar viele Männer vor diesen Clubs standen, die damit Geld verdienten, aber die Frauen sah ich nicht. Die Frauen, die ihren Körper dort verkauften, konnten also nicht entscheiden, WEM sie ihren Körper verkaufen. 

Ich bemerkte, wie mich dieser Umstand wütend machte und wie ich auch immer mehr Widerwillen gegenüber allen Besuchern dieser „Übermaß-Meile“ empfand, auch gegenüber meinem Mann, der sich neben mir amüsierte. 

Ich fühlte mich fern von allen Menschen, die ich dort sah und auch fern von der 21 jährigen jungen Frau, die ich damals war und ich registrierte, wie ich mich verändert hatte. Ich wurde traurig über diesen Umstand und war verwirrt, wusste nicht damit umzugehen. Einerseits freue ich mich über meine Entwicklung der letzten Jahre, andererseits war es wirklich sehr verwirrend und auch einsam für mich in diesem Augenblick. 
Früher feierte ich diese Party auf der Meile und flirtete und trank, was das Zeug hielt. Und ich feierte mich früher auch dafür, so zu sein, ich sah mich als Partygirl, die sich nahm, was sie wollte. Mit dem heutigen Abstand sehe ich das echt kritischer und schäme mich auch für meine damalige Naivität. 
Heute laufe ich über diese Meile und sehe nur „sodom und gomorra“, wie eine Sittenwächterin, was ja auch nicht meinen Werten entspricht.

Ich versuchte diese Diskrepanz für mich zu entschärfen und stellte mir folgende Fragen:  Wie hat sich meine Sexualität im Laufe der Jahre verändert? Wie sehr verkörpere ich die Werte, die ich in meinem Leben vertrete, auch in meiner Sexualität? Wann und warum gehe ich über meine Grenzen? Wie verändert sich der Sex, wenn sich die Umwelt/ Umgebung verändert? Wie verändert sich meine Sexualität, wenn sich die Normen der Gesellschaft ändern? 
Daraus ergaben sich für mich interessante Ansichten, Einsichten und glücklicherweise auch Selbstmitgefühl mit mir, meinem Weg und meinem früheren Selbst. 
Besonders spannend fand ich dabei meine Überlegungen, wie eigentlich alle Frauen ihre Grenzen überschreiten (lassen) , dies meist erst im Nachhinein realisieren, nämlich dann, wenn sie sich IHRER Werte, IHRER Normen und Regeln bewusster werden. Für diese Frauen ist es dann wichtig, sich nicht selber zu judgen, sondern mitfühlend mit sich umzugehen, stolz auf sich und ihre Erkenntnisse zu sein und sich zu vertrauen, dass dies zum Weg der Entfaltung dazu gehört. 

Und ein Preis der Weiterentwicklung ist es, auch mal allein durch eine Party-Menschenmenge zu laufen.