07.04.2024
Die Geschichte hinter dem Vulva sprühen...
Wie kam es eigentlich dazu, dass ich Vulvas an Wände sprühe und dies meine Botschaft für weibliche Sexualität, weibliches Empowerment, Selbstliebe und auch Empleasurement ist?
Ortswechsel:
Ich bin auf dem Weg in die Geburtstadt meiner Mutter- auf Ahnenforschung- ich möchte hineinspüren in die Welt, in den Ort, in dem meine Großeltern aufgewachsen sind, sich kennengelernt haben, eine Familie gründeten und in dem auch meine Mutter und ein Großteil ihrer 5 Geschwister geboren ist.
Ich finde es unglaublich interessant, sich die Biografien der Ahnen anzuschauen, vielleicht auch auf dunkle Familiengeheimnisse zu stoßen. Auch die Bedeutung hinter dem sperrigen Begriff „transgenerationale Weitergabe“
(„bezeichnet die Übertragung von Erfahrungen der Angehörigen einer Generation auf die Mitglieder einer nachfolgenden Generation, wobei es sich in der Regel um ein unbeabsichtigtes, oft unbewusstes und nicht selten auch ungewolltes Geschehen handelt.[..] In erster Linie geht es um unverarbeitete seelische Traumata, die in verschiedenen Zusammenhängen erworben wurden. Deren Erlebnisqualitäten können in unterschiedlicher Weise und Ausprägung direkt oder indirekt und mit verschiedenen Auswirkungen an die Nachkommen weitergegeben werden.“ Quelle: Wikipedia)
finde ich sehr spannend und ich kann es irgendwie fühlen.
Ich kann es fühlen, dass auch in mir eine Scham, ein Zurückhalten, ein „vorsichtig sein“ ist, welches nicht „meins“ ist, welches nicht mir entspricht, welches mich klein hält, ängstlich, angepasst und zurückhaltend und interessanterweise auch, welches nicht der Zeit und den Möglichkeiten entspricht, in der und mit denen ich jetzt lebe.
Ich kannte die Bedeutung des Begriffes der „transgenerationalen Weitergabe“ schon, als ich im Jahr 2020 meine Tochter gebar. Doch die Gefühle und Gedanken, die im Umgang mit meiner neugeborenen Tochter auftauchten, erschreckten und überforderten mich in ihrer Intensität und Andersartigkeit. Es war ganz anders, als ich dies im Umgang mit meinem Sohn kannte, so dass ich mich mit dem Thema intensiver auseinandersetzte.
Womit ich am meisten zu tun hatte: Ich hatte ganz viel Angst um meine Tochter, und zwar eine ganz bestimmte Angst. Ich hatte Angst, dass ihr sexuelle Gewalt angetan wird, und zwar einfach deshalb, weil sie ein Mädchen ist. Ich hatte Angst, dass jemand (und zwar ein Mann) sie in Besitz nimmt und ihr schlimme Sachen antut, einfach, weil sie körperlich unterlegen ist und dies auch immer sein wird. Zu der Zeit wurde auch vermehrt in den Medien über die fürchterlichen Verbrechen an Kindern berichtet, die sexualisierte Gewalt an Kindern und Videos davon, die über das Dark Net vertrieben werden.
In diesen Beiträgen hörte ich auch heraus, dass es unglaublich wichtig ist, den Kindern unbedingten Glauben zu schenken (denn Kinder denken sich so etwas krankes nicht aus) und den Kindern richtig zuzuhören. Um den Kindern auch die Möglichkeit zu geben, darüber reden zu können ist natürlich auch ganz wichtig, dass sie ihre Geschlechtsteile richtig benennen können. Das machte mich hellhörig und ich begriff, dass dies in der Praxis gar nicht praktiziert wird.
Vielfach wird bei Mädchen noch von „da unten“ gesprochen, vielleicht noch von „vorne“ (beim Waschen), der „Mumu“, oder sonstigen diffusen Begriffen.
Wie sollen Mädchen da die richtigen Worte finden, wenn sie sexualisierten Übergriffen ausgesetzt waren?
Deshalb dockte wohl auch im März 2022 ein Buch extrem bei mir an: „Vulva, die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“ und ich bin der Autorin Mithu M.Sanyal unglaublich dankbar für diese krass recherchierte und vielfältige Kulturgeschichte des weiblichen Geschlechts.
In diesem Buch erkannte ich sooooo viel von dem, was gerade in unserer patriarchal geführten Welt für mich aus dem Ruder läuft, als Folge der Unterdrückung des weiblichen Geschlechts.
Ich glaube sehr daran, dass Frauen von einigen wenigen Männern, die leider viel Macht hatten, zu Beginn der Religionen (der Zeitrechnung) systematisch davon abgehalten wurden, mitzubestimmen, mitzugestalten. Und ich glaube genauso, dass, wenn Frauen von diesem Beginn an hätten mitbestimmen können, es jetzt besser stehen würde um unsere Mutter Erde, um unseren Planeten.
Mit jedem Kapitel dieses aufrüttelnden Buches wurde mir bewusst, wie wenig ich und auch die Frauen aus meinem Freundeskreis über unser eigenes Geschlecht wissen, angefangen bei der Bezeichnung „Vulva“ für die äußeren, sichtbaren Geschlechtsteile und der „Vagina“, für den nicht sichtbaren Teil, den Eingang nach innen. Ein Satz aus diesem Buch erschreckte mich auch zutiefst: „Die Angst vor der Sexualität der Töchter ist größer als die Angst um die Sexualität der Töchter“.
Das stolze und laute „Viva la Vulva“ aus dem Schlusswort in dem Buch und die Erkenntnisse, die ich aus der Lektüre zog: dieses interessante geschichtliche Hintergrundwissen, die ganz früher wichtige, heilige Bedeutung des weiblichen Geschlechtes und der historische Wandel hin zu einer Schamregion ohne Namen, hässlich und unrein, begleitete mich noch in meinen Gedanken.
Bis ich die Vulva an die Wand sprühte, gingen noch einige Monate ins Land, in denen ich mich immer mehr mit dem Zusammenhang der Scham über unser Geschlecht, dem Feminismus, der weiblichen Sexualität und Lust und der Selbstliebe auseinandersetzte und Parallelen fand.
Auf einem Graffitijam in Stralsund (an dem mein Mann teilnahm) war es dann so weit, ich sprühte meine erste Vulva an eine Wand und ich kicherte und lachte mit einer Frau, die ich dort kennengelernt hatte. Es machte unglaublich viel Spaß und ich spürte, dass ich das weiter machen möchte, dass ich so das weibliche Geschlecht aus diesem Schambereich heraushole, das dies mein Anteil an dieser wichtigen Mission ist.